Nach einem ziemlich wilden Ritt haben wir morgens südlich von Anvers Island die Antarktis erreicht. Korrekt heißt dieser Bereich der Antarktis "Antarctic Peninsula" oder "Graham Land". Mit langsamer Fahrt nähern wir uns an der Backbordseite dem Festland und steuerbord Booth-Island an. Dazwischen liegt der Lemaire-Channel, diesen wollen wir passieren. Es ist eine sehr enge Durchfahrt und verspricht eine einzigartige Landschaft mit sensationellem Anblick. Wenn sie denn eisfrei wäre. Die "M/V Ushuaia" tastet sich langsam an den Eingang heran, aber es wird deutlich, es gibt kein Durchkommen. Ein Bootsmann wird in den Signalmast geschickt, um weiter in den Kanal hineinblicken zu können. Aber auch er senkt den Daumen. Schade, es wäre sicherlich eine beeindruckende Passage geworden, beeindruckend auch, weil sich dort erfahrungsgemäß immer Orcas, Seals und vielleicht sogar Minkewale aufhalten sollen. Aber wir sind ja auf einer Expedition, also wird der Plan kurzerhand geändert. Was natürlich auch die laut ursprünglichem Plan vorgesehenen Ziele betrifft. Es ist somit ein ziemlicher Rattenschwanz an Änderungen. Aber egal, mir ist das eine so lieb wie das andere. Wir werden auf dem Rückweg vom südlichen Polarkreis den Versuch noch einmal unternehmen, den Lemaire-Channel zu durchfahren. Das aber vorweg, auch der Versuch wird bei einem Versuch bleiben.


 

Bevor wir die Fahrt zum Südpolarkreis beginnen, werden wir

die Base Brown in der Paradise Bay besuchen. Eine sogenannte "continental landing", also tatsächlich auf dem Kontinent Antarktis und nicht auf einer der vorgelagerten Inseln. Base Brown ist nicht mehr aktiv, wird nur noch von einer Person betreut, die dort auch das kleine Museum betreibt. Eine völlige Aufgabe dieser argentinischen Forschungsstation wird wohl nicht erfolgen, weil, so wie ich verstanden habe, das bedeuten würde, sie müsste demontiert werden. Das könnte recht teuer werden. Neben der Base Brown ist eine Anhöhe, knapp 100 Meter hoch, von der man einen herrlichen Blick auf die Bay und den Hafen hat. Touristischer Höhepunkt ist, dass man die Anhöhe nicht wieder runtergehen muss, sondern die Möglichkeit hat, sie auf dem Hosenboden runterzurutschen. Ein bisschen Spaß darf sein. Was die Gentoo-Pinguine sich dabei denken, ist mir allerdings verschlossen geblieben

Auf Wiencke Island ist der nächste Landgang geplant. Wir werden in der Dorian Bay nahe Damoy Point an Land gehen. 

Dort stehen das Refugio Bahia Dorian und die Damoy Hut, letztere wird vom United Kingdom Heritage Trust unterhalten und verwaltet.

Gegenüber von Port Lockroy auf Wiencke Island liegt die winzige Insel Goudier, auf der eine britische Forschungsstation bis 1962 betrieben wurde. Heute ist diese Station ein Museum und eine Poststation. Etwa 18.000 Touristen verschicken ca. 80.000 Postkarten und Briefe von dort. Ich bin mal gespannt, wann meine Karte zuhause ankommt.

Nach diesen Landgängen setzen wir die Fahrt Richtung Südpolarkreis fort. Dieser soll gekreuzt werden, man darf dann zuhause im Club erzählen: und im übrigen, ich habe schon den südlichen Polarkreis überschritten. 

Üblicherweise führen die Antarktisreisen nicht so weit südlich. Diese Reise hat als Höhepunkt die Überschreitung des südlichen Polarkreises im Programm. Alle, mit denen ich auf dem Schiff gesprochen habe, fanden dies durchaus wichtig für ihre Entscheidung. Ich ursprünglich auch. Nicht wegen der Überschreitung des Polarkreises, man sieht da ja nichts, es liegt ja bei 66°33' Süd und 67°70' West kein Band im Wasser mit der Aufschrift "Südpolarkreis". Die Überschreitung beweist lediglich die Positionsanzeige auf dem Radargerät. Auf der Brücke des Schiffes war Hochbetrieb, der Countdown wurde runtergezählt und exakt bei 66°33'01'' gab es laute "Hallos" und "Aaahs" und Ooohs". Das war's dann, eigentlich wenig spektakulär. Klar, das Bewusstsein, schon südlicher als der Polarkreis gewesen zu sein, ist ganz nett. Aber wichtiger war mir die Hoffnung, halt so weit südlich wie möglich an Land zu kommen. Und es war auch vorgesehen, Detaille Island zu besuchen, eine kleine Insel südlich des Polarkreises gegenüber der Arrowsmith-Peninsula. Hier brütet eine große Kolonie von Adelie-Pinguinen. Vielleicht hätten wir sogar die Chance, Kaiserpinguinen zu begegnen. Das wär es wirklich gewesen. Aber aus mir nicht ganz klaren Gründen wurde auch dieses Vorhaben abgesagt. Vielleicht die Eislage? Ist ja eine Expedition, deshalb sind wir auf Nordkurs gegangen. Aus Sicherheitsgründen, da überwiegend eine Nachtfahrt, hat der Kapitän entschieden, den Rückweg westlich der vorgelagerten Inseln zu wählen. Das bedeutete "open seas" und vielleicht auch wieder die Chance auf zwei Desserts. Danke, Mare Mosso. 

 

Mit dem Nordkurs sind wir eigentlich schon wieder auf dem Heimweg. Wir haben Bergfest sozusagen. Nächstes Ziel ist Yalour Island südlich des Wilhelm-Archipels und anschließend der zweite Versuch, den Lemaire-Channel zu passieren. Die Yalour Islands waren sehr interessant. Zum einen brütet hier eine große Kolonie von Adelie-Pinguinen und andererseits war das Meer um die Insel herum gespickt mit Eisbergen, einer schöner, bizarrer und farbenprächtiger als der andere. Bei herrlichem Sonnenschein, ganz klarer Sicht und absoluter Windstille war es ein großes Vergnügen, ganz nah mit den Zodiacs um die Eisberge herumzukurven. Natürlich haben wir auch einen richtig schönen Brocken Eis aus dem Wasser gefischt, ganz klar, fast ohne Lufteinschlüsse, extrem gepresst und angeblich tausende Jahre alt. Der wurde dann anschließend in der Schiffsbar zerkleinert und wir konnten damit unsere Getränke verfeinern. Whisky war aus - bereits nach drei Tagen, obwohl gar keine Schotten an Bord sind - aber ein Campari hat es auch getan. In der Tat, das Eis hinterlässt schon einen anderen Geschmack als das aus meinem Kühlschrank. 


Lemaire Channel, die Zweite! Wieder ging es ganz langsam im Schritttempo in die weite Öffnung der engen Passage. Mit lautem Knall schob die "M/V Ushuaia" die trägen Eisbrocken beiseite, die immer dichter beieinander liegend den Zugang letztendlich versperrt haben. Schade, aber immerhin wir haben es versucht und auch die Annäherung an die Passage war schon sehr beeindruckend.  

 

Als nächster Landfall stand  Vernadsky Station auf dem Plan. Vernadzky oder auch Wernadski Station ist eine ukrainische Forschungsstation auf der Galindez Insel südlich des Palmer-Archipels. Ursprünglich war es eine englische Station unter dem Namen Faraday-Station, sie wurde aber 1996 an die Ukraine für ein englisches Pfund übergeben. Noch heute wird dort Forschung betrieben, trotzdem oder vielleicht auch gerade deshalb haben die Leute dort einen rechten Sinn für Humor. Sie betreiben in ihren Räumen eine Bar, eigentlich nichts Ungewöhnliches, denn es kommen sehr viele Touristen dorthin zu Besuch, aber sie brennen ihren Vodka selbst (ist nicht verbürgt, er schmeckt aber auf alle Fälle wie selbstgebrannt) und Damen, die ihren BH dort lassen, bekommen drei Vodkas umsonst. Die ansehnliche Trophäensammlung zeugt von vielfacher Nutzung dieses Angebotes. Wenn ein Kreuzfahrer kommt, wird die Forschung ausgesetzt und die Mannschaft wechselt die Berufung: sie werden Bartender, Verkäufer in ihren dversen Souvenirshops oder Fremdenführer. Wirklich ein lustiges Völklchen, die Herren Forscher. Obwohl, der Schein trügt natürlich. Ich habe mich mit dem Arzt der Forschungsstation unterhalten, nachdem wir auch den ärztlichen Behandlungsraum besichtigen durften, ob es ein aufreibender Job sei und was er den schlimmstenfalls hier vor Ort machen könne. Frakturen? Blinddarm? Also, kleinere Schnittwunden könne er schon versorgen, und Zahnbehandlung mache er auch, aber eigentlich sei er Traumatologe und müsse sich insbesondere um die psychischen Belastungen der Besatzung kümmern, die halt ein langer, dunkler Winter und die Isolation mitsichbringen. 

Gleich um die Ecke, drei Minuten Zodiacfahrt, war das Wordie-House zu besichtigen, eine erste englische Behausung, mit der Anfang des 19ten Jahrhunderts britische Landansprüche sichergestellt wurden. Leider war es verschlossen.

Es geht heimwärts, langsam aber sicher. Wir haben das "Bergfest" hinter uns und sind jetzt auf dem Weg zum Rückweg, denn mit den beiden nächsten Zielen kehren wir in heimatliche Gewässer zurück. Hier war der erste Antarktis-Sichtkontakt auf der Hinreise. Durch die Gerlach Strait werden wir Danco Island erreichen und planen bei Neko Harbour unseren zweiten kontinentalen Landfall.

Die Vorbereitungen zu einem Landfall sind immer etwas zeitintensiv. Um in die Zodiacs zu gelangen, müssen wir vom ersten Deck eine Gangway runtersteigen. Davor wird oben an Deck jeder registriert, damit kontrolliert werden kann, ob später alle auch wieder zurück an Bord sind. Die Gangway, ich schätze sie auf etwa zwanzig Meter Länge, dürfen immer nur maximal zwei Leute betreten, ist halt schon etwas betagt. Und nicht jeder bewegt sich wie eine Elfe auf dem Weg nach unten. Das heißt, es staut sich. Um nicht auf dem zugigen Unterdeck auf den Einstieg warten und anstehen zu müssen, ist es schlau, das letzte Zodiac zu nehmen. In der Zwischenzeit kann man noch oben an Deck in der Sonne sitzen, sofern vorhanden, oder einfach nur rumschlendern. Last in - last out, wie in der Buchhaltung. Im Laufe der Zeit hat sich eine kleine Gruppe herausgebildet, die die gleiche Philosophie teilen. Und wie ich so über Deck laufe, sehe ich wie ein Bootsmann alte Holzkisten, Pappkartons und ähnlichen "Müll" in den großen Grill wirft. Neben dem Grill lagen noch zwei große Plastiksäcke, vermutlich auch "Müll". Mittlerweile standen noch ein paar weitere Last-Boat-Philosophen bei mir und wir spekulierten, ob es sinnvoller sei, hier den Müll zu verbrennen oder ihn zurück an Land zu bringen, wo er vermutlich auch verbrannt wird oder sonst wie entsorgt wird. Auf jeden Fall, wir waren ziemlich entsetzt, als der Bootsmann den "Müll" angezündet hat. Offensichtlich hat er unseren entsetzt-fragenden Gesichtsausdruck bemerkt und uns aufgeklärt, was er da eigentlich mache. Aber die Überraschung sollten wir bitte nicht verraten. Der "Müll" entpuppte sich als Zunder zum Anglühen des Grills. Für die Überraschung, die uns nach der Rückkehr von Danco Island erwarten würde. Als er dann Holzkohle auf den lodernden "Müll" geworfen hat, haben wir ihm das auch sofort geglaubt.

Danco Island ist eine recht kleine Insel am Südende des Errera-Channel mit einer größeren Gentoo-Pinguin Kolonie. Oberhalb der Anlegestelle ist eine Anhöhe, recht steil. Und hier kann man die Pinguin-Highways bewundern. Um nicht bei jedem Gang eine neue Spur anlegen zu müssen, stapfen die klugen Tiere immer in den gleichen Spuren, die teilweise schon so tief sind, dass nur noch Kopf und Hals herausschauen. Ein witziges Bild.

 

Heute nun geht es endgültig an den letzten Teil unseres Antarktisbesuches. Durch die Bransfield Strait geht es auf nord-östlichem Kurs Richtung Deception Island und Half Moon Island auf den Südshetland Inseln. Noch zweimal an Land gehen und dann geht es wieder durch die Drakepassage nach Ushuaia. Deception Island war auch ein unbedingtes Wunschziel von mir. Deception - Irreführung, Betrug! Betrugsinsel. Warum heißt diese hufeisenförmige Insel so? Ein vom Meer überspülter riesiger Kratersee, etwa 14 Kilometer im Durchmesser, umgeben von hohen Felswänden bis zu 540 Metern hoch und einer Meerenge von nicht einmal 400 Metern? Es ist nichts Genaues überliefert. Vielleicht weil sie einerseits einen sicheren Ankerplatz für Schiffe bietet, sofern sie den Weg durch die enge Öffnung finden. Heute wohl kein Problem, aber in ganz frühen Jahren bei dichtem Nebel eine nautische Herausforderung. Und andererseits, Deception Island ist immer noch ein aktiver Vulkan. Die vermeintliche Sicherheit ist sehr trügerisch. 1967 und 1969 waren die letzten Ausbrüche. Dabei wurden die englischen und chilenischen Forschungsstationen zerstört. Bis 1931 war Deception Island eine Walfang- und Trankocherstation, betrieben von der norwegischen Hector Whaling Company. Die Überreste dieser Aktivitäten geben der Insel einen sehr morbiden Charme. Das will ich mir unbedingt ansehen und hoffe, dass der Expeditionscharakter unserer Reise uns nicht wieder einen Strich durch diese Rechnung macht.

Nach einer etwas rauen Überfahrt erreichen wir morgens gegen 07:00 Uhr "Neptune's Bellow", die Meerenge, die in den Kratersee führt. Trotz der frühen Stunde ist alles auf den Beinen, keiner will sich diese Show entgehen lassen. Offensichtlich ist auch die Unterwasserlandschaft nicht unproblematisch, da einige Zacken des Kraterrandes bis fast zur Wasseroberfläche reichen. Es geht wirklich im Schritttempo durch das Nadelöhr und dann rauscht die Ankerkette auf etwa 60 Meter Tiefe. Den richtigen Ankerplatz zu finden erfordert viel Erfahrung, denn der Kratersee ist bis zu 250 Meter tief. Den ganz Wagemutigen und Posern steht noch ein kleines Abenteuer bevor: die vulkanischen Aktivitäten sorgen dafür, dass sich das Wasser im Uferbereich auf ca. 10 Grad plus erwärmt. Nicht flächendeckend, immer mal nur ein Streifen wird von der aufsteigenden Wärme erfasst. Wer will, kann ein "Bad" nehmen. Das machen auch tatsächlich einige. Den Lautäußerungen zufolge ist es wohl reine Glücksache, so einen Warmwasserstreifen zu erwischen. Die Badefreunde hatten denn auch das Privileg, sofort nach dem Abtrocknen als erste aufs Schiff gefahren zu werden. Nichts für mich, ich steig schon nicht mit Freuden in den Tegernsee, weil er mir zu kalt ist. Und auf die Idee komm ich überhaupt nur, wenn die Lufttemperatur mindestens so um die 30 Grad ist. Außerdem bleibt ohne Bad auch mehr Zeit, über die Insel zu streifen und die Chance wahrzunehmen, ganz kurz Aug in Aug einem Seeleoparden gegenüber zu stehen. Wie ich da so langlaufe am Strand und um einen alten rostigen Tank biege - von hinten gesehen schien er mir ein interessantes Fotomotiv zu sein - stellt sich auf einmal ein Seeleopard auf und schreit mich an. Er wird sich offensichtlich genau so erschrocken haben wie ich, nur mit dem Unterschied, er blieb sitzen und ich habe ein rekordverdächtigen Spontansprint hingelegt. Diese Viecher sind nicht zu unterschätzen, sie sind extrem schnell auf den Flossen. Ein Biss von ihnen hat unkalkulierbare Folgen, nicht aufgrund der Bissverletzung, sondern wegen der unzähligen Bakterien, die dabei übertragen werden. Wir wurden eindringlich gewarnt, Abstand zu halten, mindestens zwanzig Meter. Ich verstehe jetzt, warum. Sind halt nicht so possierlich wie unsere Seehunde am Strand von Norderney.