Freitag, 06. Februar 2015
Nach dem letzten Frühstück habe ich die "Via Australis" gegen neun Uhr verlassen und stand mit meinem Gepäck auf der Pier. Gott sei Dank der Koffer hat Rollen, gewogen 22 kg, gefühlt 50 kg. Mein Fotorucksack mit Laptop etc. locker 16 kg. Ja, ich habe einfach zuviel dabei, aber es ist schon auch eine lange Zeit, die ich unterwegs bin und es sind ganz unterschiedliche Klimazonen und Betätigungen. Die Gummistiefel schlepp ich auch noch mit mir rum und das Pfund Salz - eine kleinere Menge gab es nicht - das ich mir zum Gurgeln gekauft habe, weil ich in Punta Arenas meinte, Halsschmerzen und eine Erkältung zu bekommen. Und ich stehe hier auch wieder mit meinem sperrigen Daunenparka im Arm - ich habe ihn nicht ein Mal angehabt bislang. Muss ich erwähnen, dass wir wieder ca. 10 oder 15 Grad plus haben heute Morgen? Der Parka ist gut für 40 Grad minus, aber seine große Stunde wird noch kommen, da bin ich mir ganz sicher. Im Moment hab ich jedoch noch nicht den richtigen Dreh gefunden, wie ich alles bändigen kann. Also Daunenparka über den dicken Faserpelz gezwängt, Fotorucksack nach drei Versuchen auf den Rücken gebracht, Tasche rechte Hand, links Koffer geschoben. Die "Dehnungsfugen" auf der Pier sind so breit, dass die Kofferrollen jedes Mal vollständig versinken. Das Hotel Albatros soll zwar direkt vor dem Hafen sein, aber fast ein Kilometer Fussweg wird es wohl sein, die Pier mitgerechnet. Im Hotel angekommen schwör ich mir durchgeschwitzt und außer Atem das zweite Mal auf dieser Reise, nie wieder, wirklich nie wieder mit so viel Gepäck loszuziehen.
Zum einchecken ist es auch noch zu früh, also erst einmal abhängen und mich erholen.
Gegen Mittag ist alles erledigt und ich treffe das Wiener Ehepaar, die mit mir am Esstisch auf der "Via Australis" gesessen haben, zufällig auf der Av. San Martin, der Shopping-Meile von Ushuaia. Ganz reizende, nette Leute und wir verabreden uns zum Abendessen im Restaurant "Tia Elvira". Zufall, sowohl sie als auch ich hatten im Reiseführer eine Empfehlung gelesen. Mein Reiseführer sagte: Achtung, häufig sehr voll, reservieren. Sehr gute Fischgerichte. Ähnliches haben auch die Wiener gelesen. Deshalb war die Einigung schnell erzielt und bei einem wirklich guten, lokalen und frisch gezapften Bier in einem Irish Pub besiegelt. Wir waren die letzten Tage ja schließlich trainiert, schon bevor die Straßenlaternen angehen einen Schlückchen zu trinken. Für meine Wiener Freunde wie für mich eigentlich völlig ungewöhnlich. Ehrlich! Wir sind bekennende nur-zum-Abendessen-gibt-es-Alkohol-Trinker.
Den Nachmittag habe ich genutzt, mir Ushuaia einmal anzusehen. Hat mich ein wenig durch die Hanglage und die Dichte der Sportgeschäfte, Cafés und Restaurants an schweizer Skiorte erinnert. Vor allem aber wegen der Preise. Ein Café con Leche, ein sehr kleines Croissant und ein Wasser kosten bei "Tante Sara" so in etwa 12 € inkl. Tipp. Aber gut, die müssen ihr Geschäft innerhalb von sechs Monaten machen. Im Winter ist es sicherlich eher mau. Da war Punta Arenas schon ein Stück preiswerter.
"Tia Elvira" war zwar voll besetzt, wir hatten reserviert. Aber auch das habe ich mir geschworen: meide Restaurants, die in Reiseführern empfohlen
werden, es sei denn, es ist der Guide Michelin. Schlecht, das Essen war schlecht. Wir hatten Muscheln. Ich will nicht weiter drauf eingehen. Es lag vielleicht daran, dass wir keine King Crabs
bestellt haben. Das ist wohl die Spezialität. Fast alle hatten solche Viecher auf dem Teller, als Suppe, als Auflauf, als sonstwas oder halt so wie sie sind. Ich kann die Dinger nicht essen.
Allein das Foto dieser Riesenkrabben an der Wand, gut ein Meter Durchmesser mit ihren Beinen, hat mich irritiert. Geschweige denn die Vorstellung, ich müsste den Rückenpanzer aufknacken und aus
der Rumpfschale essen. Ich empfehle mal einen Blick ins Internet. Auch meine Wiener Begleitung, mit exotischen Essgewohnheiten von vielen Reisen vertraut, fanden gerade King Crabs mehr als grenzwertig. Aber wir sind nicht nachtragend, haben noch eine Flasche Wein
bestellt und einen ganz passablen Dessert. Also, das können sie überall in Südamerika.
Samstag, 07. Februar 2015
Heute Vormittag hole ich mir meinen Mietwagen. Da ich bis zur Abfahrt zur Antarktis noch ein paar Tage Zeit habe, möchte ich mir den argentinischen Teil von Feuerland ansehen. Dieser Teil liegt noch ein Stück süd-östlicher als der chilenische Teil, deshalb verspreche ich mir einen etwas anderen Eindruck von Feuerland. Insbesondere, weil ich küstennäher bin, zum Atlantik hin und zum Beagle-Kanal. Die Küstenregionen finde ich interessanter, spannender. Sie entsprechen in ihrer Schroffheit eher meiner Vorstellung von Feuerland. Nicht nur wegen der Hoffnung, das eine oder andere Schiffswrack zu entdecken.
Ich habe eine Hosteria am Lago Fagnano gebucht, die Hosteria Kaiken in Tolhuin. Der Lago Fagnano ist der größte See auf Feuerland, etwa 30 Kilometer lang. Die Karte, die ich mir schon in Deutschland besorgt habe, verspricht von dort einige interessante Pisten in Richtung Atlantik und Beagle-Kanal.
Ich bekomme den Mietwagen leider erst um 12:00 Uhr, muss noch gereinigt und gewaschen werden. Tät nicht nötig, hab ich angeboten, wird eh wieder dreckig. Aber sie wollten nicht. Dabei wäre es bei dieser ausgelatschten Kiste nun wirklich wurscht. Welch Unterschied zu Hertz.
Das Wetter ist nicht ideal, bedeckt und es nieselt einen ostfriesischen Landregen. Bis zur Hosteria Kaiken sind es gut 100 Kilometer, also keine Entfernung. Die Strecke dorthin ist landschaftlich recht nett, es geht sogar über einen Pass.
Ich bin am frühen Nachmittag in der Hosteria angekommen, sie liegt wirklich sehr schön über dem Lago Fagnano, aber auch hier, ähnlich wie am Lago Blanco, hat man zwar einen herrlichen Blick, nur man kommt nicht ans Ufer. Es gibt hier schlichtweg keinen Zugang, geschweige denn einen Wanderweg. Ich vermute, dass ein Großteil der Unterkünfte nur für die Durchreise gebucht werden. Vielleicht zwei Nächte, mehr sicherlich nicht. Für einen Trip an die Küste ist es zu spät, aber die Karte zeigt eine Piste, etwa 40 Kilometer zum Lago Yehuin, einem kleineren See, und sie sagt mir, es gibt dort die Hosteria Lago Yehuin und das Parador Yawen. Ich wäre rechtzeitig für einen Nachmittagskaffee dort.
Die Fahrt geht durch die typischen Steppenlandschaften und Feuerlandwälder, entweder verfallende Baumstümpfe oder Bäume mit wehenden Gräsern, Farnen oder was immer die wollähnlichen Fäden sind. Irgendwie sehen sie aus, als wären es die Vollbärte der frühen Seefahrer.
Es geht links ab zum See und zur Hosteria, 5 Kilometer noch sagt das Schild. Ich habe mich vorher schon gefragt, wer hier wohl herfahren mag. Urlaub, Erholung, Fischen, es gibt sicherlich viele Gründe. Aber dann die Überraschung!
Es ist wohl schon sehr lange her, dass der letzte Urlauber hier geurlaubt hat. Obwohl die Karte "Isla Grande De Tierra Del Fuego" eine "Revised Edition" ist, stimmt sie mit der Realität nicht mehr so richtig überein. Als ich die Karte dann doch etwas genauer untersuche, sehe ich, ganz winzig, (c) 1995. Tja, in zwanzig Jahren kann so manche Hosteria den Weg allen Irdischen gehen.
Sonntag, 08. Februar 2015
Es nieselt immer noch ostfriesisch, sei's drum, ich werde etwa 50 Kilomerter Richtung Rio Grande fahren und dann rechts auf die Piste "a" abbiegen Richtung Atlantikküste. Es sind noch einmal ca. 50 Kilometer und dann bin ich an der Caleta San Pablo mit der Hosteria San Pablo. Es gibt dort einen Leuchtturm und die Karte zeigt noch einen Anker an diesem Küstenabschnitt und die Silhouette eines Fisches. Gut, die Karte ist von 1995, der Fisch vielleicht nicht mehr da, aber vielleicht die Hosteria. Die Hoffnung auf ein gutes Mittagessen begleitet mich.
O.k., Karten von 1995 sollte man nicht unbedingt trauen. Gut, dass ich Wasser und eine Rolle Kekse dabei habe.
Wie ich dann so weiter fahre, sehe ich mein Objekt der Begierde, unten am Strand, rostig braun, etwa 50, 60 Meter links unter mir ein Schiffswrack. Nur, wie komm ich dahin? Im Moment führt meine Piste mich weg von diesem Wrack. Aber warum habe ich ein SUV? Also den nächsten Feldweg rein und siehe da, er führt mich ziemlich direkt zu gewünschtem Ort. Die letzten 100 Meter kann ich laufen, auch wenn es ostfriesisch nieselt, ist nicht weiter tragisch. Ist halt nur nicht so schön für's Fotografieren.
Nach dieser schönen Überraschung mache ich mich auf den Weg zurück nach Tolhuin. Ich möchte mir das Städtchen mal ansehen, es ist eher ein Dorf. Aber da Land hier offensichtlich nichts kostet und reichlich vorhanden ist, stehen die Häuser, Bretterbuden oder was davon übrig geblieben ist sehr weit auseinander. Das gibt der ganzen Ansammlung eine gewisse Weite und Großzügigkeit. Außerdem gibt es in Tolhuin die Panaderia La Unión. Eine Bäckerei, die überregional bekannt ist und jeder, der nach Rio Grande fährt oder von dort kommt, macht da Station, um Kuchen, Torten, Gebäck, Pralinen oder sonstiges Süsses zu kaufen. Es ist nicht zu glauben, Tolhuin ist ein Kaff, halb zerfallen, Ruinen an jeder Ecke, es würde mich wirklich große Anstrengung kosten, mich dort auch nur im Ansatz wohl zu fühlen. Aber eine Konditorei von Weltklasse. Locker dreißig Leute stehen Schlange - es ist Sonntagnachmittag gegen vier Uhr - um Kuchen zu kaufen. Ich kann nur sagen, das Warten hat sich gelohnt. Dann kommt auch noch eine Gruppe Motorradfahrer, etwa 20 an der Zahl, auf der Durchreise nach irgendwo. Aber auch sie haben von dieser Konditorei gehört und lassen es sich nicht entgehen, in voller Montur und Regenanzügen eine Kaffee-Torten-Pause zu machen.
Montag, 09. Februar 2015
Heute geht es zurück nach Ushuaia. Da ich den Mietwagen erst morgen abgeben muss, habe ich genügend Zeit, über die Ruta "j" einen Abstecher entlang des Beagle-Kanals zur Estancia Harberton zu machen. Die Estancia Harberton ist eine der ältesten Estancias auf Feuerland, sie wird noch bewirtschaftet, ist aber hauptsächlich als Museum hergerichtet und ist Anlaufpunkt vieler Touristen, die mit dem Katamaran von Ushuaia durch den Beagle-Kanal anreisen. Die Ruta "j" ist natürlich eine Piste und sie zweigt etwa auf halber Strecke nach Ushuaia nach Süd-Osten ab. Leider komme ich nicht an die Ostspitze von Feuerland. Das Cabo San Diego wäre sicherlich ein sehr interessanter Ort. Aber keine meiner Karten weist auf eine befahrbare Piste hin, wenngleich es dort die eine oder andere Estancia gibt, sagt meine 1995er Karte. Aber ich gehe nicht davon aus, dass im umgekehrten Analogieschluss etwas tatsächlich existiert, das die Karte noch nicht zeigt. Man wird wohl keinen Highway zur Ostspitze Feuerlands gebaut haben in den letzten zwanzig Jahren.
Das Wetter hat sich gebessert heute und auf dem Weg zur "j" ermöglicht die sich durchkämpfende Sonne noch einige nette Fotoperspektiven.
Die "j" ist so unscheinbar, dass ich erst einmal vorbeifahre. Ich bemerke den Irrtum aber recht bald und von der anderen Richtung kommend, sehe ich auch den Wegweiser. Es ist eine extrem harte, glatte, lehmige Piste, fast ohne größere Schlaglöcher und Steine. Die sich hinter mir zuziehenden Wolken drohen mit Regen. Ich vermute, dann ist es hier eine Fahrt wie auf Glatteis. Bis zur Küstenlinie des Beagle-Kanals geht es durch dichte Wälder. Rechts und links im Wald stehen vereinzelt "Datschen". Manche fast prunkvoll, andere nicht mehr als ein Bretterverschlag.
Die Piste schlängelt sich jetzt entlang des Beagle-Kanals, aber bevor er sich zu einer breiten, fjordähnlichen Mündung öffnet, kommt die Estancia Harberton in Sicht.
Ich verlasse die Estancia Harberton. Mit viel Leidenschaft und auch wohl mit viel Arbeits- und Zeiteinsatz betreuen junge "Volunteers" das Walmuseum, das Herrenhausmuseum und die Garten- und
Gemüseanlagen. Auch ein kleines Café wird betrieben mit selbst gebackenem Marmorkuchen. Ich glaube, den Estancias in Argentiniens Süden geht es nicht sehr gut. Davon zeugt der häufig erbärmlich
wirkende Zustand der Höfe. Und irgendwie kann doch keiner von den wenigen Schafen und Kühen, die ich insgesamt auf den Weiden gesehen habe, leben. Beeindruckend ist, dass die riesigen Ländereien
der Estancias immer noch lückenlos eingezäunt sind. Kilometerlange Zäune, soweit das Auge reicht, rechts und links der Straßen und Pisten sind nach wie vor Zeichen der Landnahme. Ich habe
gelesen, dass in einem Jahr in den frühen Jahren um 1900 herum Argentinien für etwa 18 Millionen Dollar Vieh importiert hat, aber für 63 Millionen Dollar Weidedraht. Also die goldenen Zeiten sind
vorbei, die gehen Richtung Soja-Anbau im Norden Argentiniens. Umso bemerkenswerter, dass die Estancia Harberton ein anderes Geschäftsmodell zum Überleben gefunden hat.
Die Piste entfernt sich immer weiter vom Küstenstreifen und es wird hügeliger. Der Beagle-Kanal liegt jetzt gut 100 Meter unter mir. Ein guter Zeitpunkt, um zu wenden und zurück nach Ushuaia zu fahren. Ich habe morgen noch einen ganzen Tag dort und übermorgen noch bis zum Nachmittag. Zeit genug für diesen überschaubaren Ort. Ich hoffe es wird nicht zu langweilig, denn ich kann es kaum erwarten, endlich auf die "M/V Ushuaia" zu kommen und Richtung Antarktis loszufahren.
Mittwoch, 11 Februar 2015 - Richtung Antarktis
Heute ist d e r Tag, der seit Jahren in meinen Reiseplänen herumgeistert. Nicht, dass die anderen Aktivitäten in Patagonien im Schatten des Antarktistrips gestanden hätten. Jeder Teil für sich war interessant und spannend, jeweils auf eine ganz eigene Art. Aber jetzt kommt doch der Höhepunkt der gesamten Reise und ich bin froh, dass er den Abschluss bildet. Meine Erwartungen sind hoch, aber irgendwie diffus. Was erwarte ich eigentlich? Eine grandiose Landschaft, die den Eindruck hinterlässt, nicht von dieser Welt zu sein? Mit dem weißesten Weiß, das sich erst im Horizont verliert? Mit einer einzigartigen Tierwelt, schon mal gesehen, aber nie hautnah mittendrin? Pinguine, Seeleoparden, vielleicht sogar Seeelefanten? Ein Meer, tausendfach verschieden Blau? Bestimmt ist die Antarktis in all diesen Belangen ein Superlativ. Aber da ist noch etwas anderes. Etwas, das man nicht sehen, sondern nur fühlen kann. Eine Verlassenheit und tiefe Einsamkeit? Eine Klarheit, die alle Sinne erfasst? Vielleicht schwierig zu empfinden bei achtzig Mitreisenden. Aber wenn ich es mal geschafft habe, mich fünf Minuten abseits der anderen zu positionieren, mich zu konzentrieren, einfach mal in die Lautlosigkeit hineinzuhorchen, wenn dazu noch ein grauer Himmel das Wasser schwarz werden lässt, dann spürt man diese besondere Verlassenheit dieses Ortes. Manche meinten, der Ort sei gottverlassen. Aber da kommen mir Zweifel. Vielleicht ist er gerade hier. In dieser Pracht und Schönheit. Woanders hält er es vielleicht gar nicht mehr aus. Ich bin alles andere als bibelfest, aber irgendwo heißt es, sein Reich sei nicht von dieser Welt. Und das hier ist ein anderes Universum.
Auf der "M/V Ushuaia" war auch eine kleine Gruppe orthodoxer Juden aus Israel. Sie arbeiteten an einer Filmdokumentation über Reisen an Orte, die nicht religiös oder politisch "verseucht" wären. Ein interessantes Projekt, da liegt es offensichtlich nahe, sich die Antarktis auszusuchen. Ich habe mich einmal mit ihnen unterhalten, insbesondere über den Aspekt, dass ja meiner Meinung nach die Antarktis wenn nicht "verseucht", dann aber politisch und religiös durchaus bereits besetzt sei. Symbole dieser Besetzung seien Nationalflaggen und eine Reihe christlicher Kapellen bei den Forschungsstationen. Sie hatten natürlich Recht, verglichen mit anderen Orten auf dieser Welt ist die Antarktis nicht "verseucht". Es bleibt zu hoffen, dass die Verlassenheit und Einsamkeit dieses Kontinents noch lange Zeit eine "Verseuchung" verhindert.
Bei aller Philosophiererei sollte ich die Abreise nicht verpassen. Die "M/V Ushuaia" liegt ganz hinten an der Pier irgendwie geduckt hinter den riesigen Luxus-Kreuzfahrern. Es stürmt derart, dass ich den Koffer legen muss, damit er mir nicht über den Anleger davon rollt, wenn ich ihn loslasse. Es fängt an zu nieseln und ausgerechnet heute habe ich meinen Daunenparka eingepackt. Wie man es macht!
Wir werden noch eine gute halbe Stunde warten müssen bis zum Boarden. Als es endlich an Bord geht, hört es auch auf zu Regnen, aber gefühlt hat der Wind noch zugelegt. Was sich auf der vorigen Schiffsreise über mehrere Stunden im komfortablen Stadtbüro der "Australis"-Reederei verteilt hat, sorgt hier für eine lange Schlange, deren Ende noch meterweit auf der Pier steht. Das Einchecken ist etwas mühsam. Aber auch der Prozess ist bald beendet, nachdem wir alle schriftlich erklärt haben, dass wir keine ansteckenden Krankheiten haben, nicht aus Ebola gefährdeten Gebieten eingereist sind und auch sonst gut drauf sind.
Pünktlich um 18:00 Uhr werden die Leinen losgeworfen, die "M/V Ushuaia" legt ab. Es ist schon ein Kribbeln zu spüren, als das Schiff mit seinem blauen Rumpf - ich mag blaue Schiffsrümpfe extrem gern - langsam im Hafenbecken dreht und Richtung Beagle-Kanal Fahrt aufnimmt. Man möchte grad rufen: Ahoi Antarktis, wir kommen! Aber ich fürchte, die wartet nun ganz bestimmt nicht auf uns. Sei's drum, auch wenn sie anderes verdient hat als tausende Besucher jeden Sommer, ich bin so frei. Wer weiß, wie lange es überhaupt noch möglich ist bzw. Sinn macht, dorthin zu reisen.
Das Programm für den restlichen Tag:
1. Mandatory Life Boat Drill entsprechend den SOLAS-Regeln
2. Dinner, mit dem Hinweis, anschließend alle persönlichen Gegenstände in der Kabine seefest zu verstauen, da wir gegen Mitternacht "open seas" erreichen werden
3. After Dinner - Movie Time.
Bevor das offizielle Programm losgeht, heißt es Kabine einrichten. Ich habe eine Doppelkabine zur Einzelnutzung. Es ist schon komfortabel, eine Koje als Ablage nutzen zu können. Bei zwei Personen und Gepäck wäre es schon ziemlich eng geworden. Da muss man sich schon gut kennen. Ich wähle die Koje an der Innenwand zum Schlafen, nicht wegen der möglichen kalten Außenwand, sondern weil ich davon ausgehe, in der Nähe der Schiffslängsachse sind die Rollbewegungen halt nicht so stark. Der Fahrstuhleffekt ist etwas gemildert.
Es bleibt noch ein wenig Zeit, sich im Schiff umzusehen und die zentralen Bereiche zu begutachten: die Bar und die Lounge. Wie ich schon sagte, sehr
Basic.
Das Schiff schaukelt, präziser ausgedrückt rollt, ziemlich, nicht dramatisch, aber beim Gehen gilt ab jetzt: eine Hand für mich, eine Hand fürs Schiff. Man sollte sich schon festhalten irgendwo. An allen Handläufen auf den Gängen sind auch im Abstand von einem Meter sogenannte "Kotztüten" angeklebt. Man hat wohl so seine Erfahrungen. Vor dem Safety Drill und dem Dinner gibt es noch "general introductions & briefings". Die Mannschaft stellt sich vor. Mannschaft das ist das Expeditionsteam. Augustin, der Leiter des Teams, Leandro, Biologe und sein Assistent, Valeria Tourguide sowie Linda und Pablo, beides ebenfalls Biologen. Vorgestellt wird auch noch Dra. Lynne Hoole aus Südafrika, Ärztin und sehr erfahren in der Behandlung von Seekrankheit, wird uns mitgeteilt. Außerdem, dass jede Konsultation US$ 20,- kostet, in der eigenen Kabine US$ 25,-. Aber: die Behandlung und Medikation gegen Seekrankheit ist kostenlos. Das beruhigt, allerdings hätte sie bei mir, zumindest wegen einer Behandlung gegen Seekrankheit, sowieso keinen Umsatz gemacht.
Bei der Gelegenheit haben wir auch erfahren, dass wir 88 Passagiere sind aus 18 Nationen. Schon erstaunlich, diese Vielfalt. Erstaunlich war auch die Frage von Augustin, wie viel Iren an Bord seien. War natürlich rhetorisch, das geht ja aus ihren Anmeldeunterlagen hervor, aber er wollte mit dieser Frage kundtun, dass sie bei der letzten Reise eine Gruppe von zwölf Iren dabei hatten. An sich nichts Verwerfliches, aber nach zwei Tagen war der gesamte Biervorrat der Reise aufgebraucht. Die vier Iren, die jetzt dabei waren, lediglich zwei ältere Ehepaare, wurden dennoch etwas misstrauisch angeblickt von uns Nichtiren.
Safety Drill und alle Belehrungen sind überstanden, somit geht es zum Dinner. Erstaunlich, was die drei Köche und der Patissier aus ihrer recht kleinen Kombüse über die ganze Reise hervorgezaubert haben. Keine Offenbarungen, aber deshalb sind wir ja nicht hier. Jeder ist satt geworden und wieder einmal: die Desserts waren Spitze. Wobei zu sagen ist, nach zwei Tagen und Nächten in der Drake-Passage haben sich die Reihen an den Esstischen doch ziemlich gelichtet. Teilweise nur halbe Besetzung, was wiederum dazu geführt hat, dass man nicht nur zwei, sondern auch drei Desserts bekommen konnte. Einen größeren Gefallen konnte man unseren drei wirklich liebenswürdigen Stewarts gar nicht tun.
Das "Restaurant" war in zwei größere Abteile unterteilt, Die Tische waren angeordnet wie bei uns im Biergarten, allerdings keine Bänke, natürlich nicht, sondern festgeschraubte Drehstühle. Alles recht eng, so dass es dem einen oder der anderen doch schwer fiel, zwischen den Stühlen durchzuschlüpfen. Das war immer wieder ein drolliges Bild. Sechs oder acht Personen saßen jeweils an einem Tisch. "Open Seating" war das System, d. h. es gab keine festgelegten Plätze. So konnte ich mal hier, mal dort sitzen und es ergab sich eigentlich immer ein interessantes Gespräch. Na ja, nach vier, fünf Tagen bildeten sich schon festere Grüppchen und auch ich habe zumindest zum Dinner häufig mit zwei Briten und einem Australier zusammengesessen. Uns hat die gleiche Vorliebe für Malbec aus Mendoza vereint, der einzige Wein, der im Angebot war. Das war zwar kein Luigi Bosca, aber auf dem Weg zur Antarktis und für zwanzig US$ muss man Zugeständnisse machen.
Nach dem Dinner und der Movie Time - es gab einen National Geographic Film über die Antarktis, was sonst - war das Bordleben allerseits recht bald beendet. Man zog sich in die Kabinen zurück. Die Nacht war relativ ruhig, ich hatte Schlimmeres befürchtet. Nur jede siebte Welle - ein seltsames Gesetz auf den Weltmeeren - ließ das Schiff etwas stärker rollen. Diese Art der Bewegung ist herrlich, sie macht mich so schön schläfrig.
Als ich am nächsten Morgen aus dem Fenster schaue, sehe ich in einiger Entfernung Land. Noch im Morgendunst hebt es sich dunkel gegen das Meer ab. Sind wir schon da? Habe ich zwei Tage und Nächte verschlafen? Oder sind wir noch gar nicht weg? Tatsächlich stecken wir immer noch im Beagle-Kanal. Am Eingang zur Drake-Passage zwar, aber immer noch unter Landabdeckung. Wie uns dann mitgeteilt wurde, hat sich ein schwerer Sturm in der Passage aufgebaut und wir müssen warten, bis es abflaut. Wann wird es denn wohl abflauen? Das sei die Millionen-Dollar-Frage, ist die Antwort. Immerhin, jetzt wissen wir Bescheid. Letztendlich warten wir hier noch den ganzen Tag und die kommende Nacht, bis der Kapitän den Bug, richtiger die Breitseite, dem Sturm entgegen stemmt. Sturm ist es immer noch, wenn auch nicht mehr so stark. Aber in den Spitzen werden 60 Knoten Wind gemessen, das ist schon ein Wort. Mare mosso! Unser Kapitän war viele Jahre auf einem Trawler in der Hochseefischerei tätig, diese Gattung gilt nicht gerade als zimperlich.
Jeder versteht und viele sind auch froh, dass wir den Sturm im einigermaßen geschützten Beagle-Kanal abwettern, aber wir verlieren natürlich mindestens einen ganzen Tag am eigentlichen Ziel unserer Reise. Dies sei das Wesen einer Expedition, wurden wir eingeschworen, nichts sei vorhersehbar und planbar. Diese Erkenntnis wird uns auf der ganzen Reise, sprich Expedition begleiten.